Anwort von Nuala

Liebe Jenny!

Das klingt sehr traurig. Du bist enttäuscht, verständlicherweise sehr wütend auf deinen Vater und fühlst dich von ihm im Stich gelassen. Ich wünschte, es wäre anders, denn liebende, fürsorgende Eltern sind so etwas Wunderbares - und leider nicht immer selbstverständlich... Wer weiß, womöglich besinnt er sich eines Tages und merkt, was für einen Mist er gemacht hat. Dann ist er vielleicht bereit für eine Entschuldigung. Doch sollten wir uns gar nicht so sehr darauf konzentrieren, denn es geht besonders um die Gegenwart.

Für mich ist an der Stelle klar, dass ihr Hilfe von außen benötigt. Nicht nur du, sondern auch deine Mutter. Bitte rede mit ihr und versuche sie zu überzeugen, dass ihr euch einen Termin in einer Familienberatungsstelle geben lasst. Denn dort arbeiten geschulte Personen, die sich mit Themen wie Scheidung, Streit, Überforderung eines Elternteils, Auszug etc. auskennen. Denn am besten wäre es meiner Meinung nach, wenn ihr beide baldmöglichst aus dem Haus ausziehen würdet. Vielleicht käme für den Anfang eine kleine preisgünstige Wohnung in Frage. Da hättest du dann zwar erstmal kein eigenes Zimmer, aber es wäre der Beginn einer neuen Zeit, in der ihr beide euch sortieren und wieder mehr aufeinander konzentrieren könntet.

Für dich persönlich sehe ich unabhängig von der Trennung deiner Eltern den Punkt, dass du vor der Aufgabe stehst, dich irgendwie zunächst von deinem Vater frei zu machen. Vor allem gedanklich. Die negativen Gefühle sind da, keine Frage. Aber du kannst probieren, dich dennoch etwas gedanklich von ihm zurückzuziehen - denn sein Verhalten und die früheren Geschehnisse kannst du nicht verändern. Es wäre toll, wenn du es schaffen würdest, ab jetzt mehr auf dich zu schauen: Im Guten, für eine schöne Zukunft. Dafür versuchst du, deinen Vater ein Stück weit außen vor lassen, um nicht immer wieder neue Frustration zu spüren. Das heißt nicht, dass du etwas verdrängen sollst. Im Gegenteil. Lass alles zu, was in dir hochkommt. Doch lass es nicht dein Denken und deinen Alltag bestimmen. Erkenne an, was in dir ist, aber verweise es auch auf seinen Platz. Such dir dann gezielt Ablenkung, wenn es dich nervt.

Bitte lass deine Mutter an deinen Gefühlen teilhaben. Gemeinsam könnt ihr euch Halt geben. Auch wenn sie selbst traurig ist, kann sie für dich da sein - nimm du sie dann einfach in den Arm! Drückt euch ganz fest, da braucht ihr nicht reden. Kuschelt euch ein, oder haltet eure Hände. Du kannst ihr etwas Gutes tun, indem du ihr im Haushalt hilfst. Dabei könnt ihr euch unterhalten.
Auch sehr schön sind Massagen mit einem feinen Massageöl: Wenn deine Mutter gerade sehr angespannt ist, kann ihr eine Massage am Rücken, an den Händen oder Füßen sehr helfen. Eine Gesichtsmassage ist ebenfalls fein. So kannst du ihr zeigen, wie lieb du sie hast und ihr nahe sein. Und auch du kannst dabei entspannen! Da ergeben sich auch leicht Gespräche.
Eine weitere Idee für euch: Macht euch mindestens einen Abend in der Woche aus, an dem ihr gemeinsam etwas Schönes unternehmt. Das kann etwas sehr Preiswertes oder Kostenloses sein, z.B. einen langen Spaziergang machen oder geliehene Filme gucken (in Büchereien kann man sich auch Spiele und Filme ausleihen).

Du hast anscheinend kaum soziale Kontakte und fühlst dich wahrscheinlich oft einsam. Dagegen solltest du sofort etwas unternehmen. Klar, echte Freund:innen lassen sich nicht plötzlich aus dem Hut zaubern. Dafür braucht es Zeit und die gleiche Wellenlänge. Was du jedoch machen kannst: Geh in verschiedene Vereine, in denen Jugendliche sind. Sportvereine, Faschingsvereine, Theatergruppen, Tierschutzgruppen, Pfadfinder, Waldjugend, Malteser, Rotes Kreuz,... was auch immer. Dort hast du den Vorteil, dass du sofort mit Anderen zusammen sein kannst. Überleg dir einfach mal, was dich sehr interessiert und such dann bei dir in der Gegend nach passenden Sachen. Das kann auch ein Jugendzentrum sein, die haben häufig verschiedene Angebote, z.B. zu Natur und Technik, Handwerk, Kreativsein, Fotografie... Ein Selbstverteidigungskurs oder ein Kampfsport könnten dir ebenfalls gut tun, denn da wird auch das Selbstwertgefühl gestärkt. Übrigens gibt es da auch kostenlose Angebote. Auch die anderen Vereine müssen nicht viel kosten. In deiner Schule gibt es bestimmt auch AGs. Dort hast du die Möglichkeit, andere Schüler:innen kennenzulernen.
Weitere Möglichkeiten, um schnell das Gefühl zu haben, nicht allein und einsam zu sein, sind z.B. Mail - oder Brieffreundschaften, z.B. über https://mailfriends.com/de. Dort findest du auch Mädels und Jungs in deinem Alter, auch aus anderen Ländern. Wenn du jemandem schreiben kannst, ist das wirklich sehr erleichternd und spannend. Du kannst aus deinem Leben erzählen und der/die Andere aus seinem - und so könnt ihr euch auch gegenseitig unterstützen und teilhaben.

Übrigens hilft es schon sehr, viel draußen unterwegs zu sein - denn du schreibst, dass du oft allein daheim sitzt. Das ist leider meistens das, was alles noch schlimmer macht, weil du in einer Dauerschleife des Negativen festsitzt. Geht lieber raus, setz dich auf eine Parkbank, beobachte Enten am Teich, gehe joggen oder Geocachen. Das geht auch super alleine. Das lindert nicht sofort das Einsamkeitsgefühl, aber einfach schon die Anwesenheit anderer Menschen draußen hat häufig gute Effekte.
Wenn du eine Monatskarte für Bus und bahn hast, kannst du diese nutzen, um gratis an neue Orte zu fahren. geh auf Erkundungstouren! Du wirst sehen, dass du irgendwann einfach in den Bann gezogen wirst und auf neue Gedanken kommst. Und dann kannst du deiner Mutter berichten, was du Interessantes gesehen hast. So habt ihr neue Gesprächsthemen, was euch beiden gut tut.

Um jeden Tag in einem positiven Licht betrachten zu können, kannst du ein "Tagebuch der schönen Momente" anlegen. Da kannst du alles notieren, was dir irgendwie gefallen hat, z.B., dass du die rotgeringelte Nachbarskatze streicheln durftest, eine gute Note bekommen hast, den Sonnenuntergang bestaunen konntest... oder noch viel kleinere Sachen, die du einfach gut fandest. Da gibt es keine festen Regeln. Es geht darum, den Blick für das Lebenswerte, Bereichernde zu schärfen und kleine Glücksmomente gebührend festzuhalten. Denn so kannst du dauerhaft mehr Freude empfinden, weil du eben schon mehr darauf achtest. Das ist eine simple und effektive Strategie!

Falls du trotzdem weiterhin Suizidgedanken haben solltest, brauchst du auf jeden Fall Hilfe durch eine ambulante Psychotherapie oder durch eine Klinik. Es gibt welche speziell für Jugendliche. Dort könntest du dich auf dieses Grundproblem konzentrieren, daran arbeiten (u.a. durch Gespräche mit Therapeut:innen, Kunst - und Ergotherapie, Sport etc.). Und auch mit anderen jungen Menschen in Kontakt kommen.

Ich wünsche dir, dass du durch meine oben genannten Tipps bald wieder fröhlicher sein kannst und du wieder Freude am Leben hast. Und wenn du den Drang hast, uns wieder zu schreiben, kannst du das jederzeit tun.

Alles Liebe!
Nuala